Jul 282021
 

Zugegeben: Die Arbeit mit dem Epheserbrief war mühsam. Es war mühsam, sich durch Kettensätze zu kämpfen und die Bedeutung oftmals abstrakter Begriffe zu erfassen. Manches Mal habe ich mich gefragt: Geht es nicht konkreter? Das Konkrete liegt mir eigentlich näher. Im Laufe der Zeit ist mir jedoch deutlich geworden, dass die Abstraktionen System haben. Vielfach führt ihre Verwendung nämlich zu Mehrdeutigkeiten. Und die Mehrdeutigkeiten ergeben ein sehr tiefgründiges theologisches Gewebe.

Der Epheserbrief bildet komplexe theologische Muster, einem Karten-Legespiel ähnlich

Wie haben wir uns das vorzustellen? Ziehen wir als Vergleich ein Karten-Legespiel heran. Das Besondere an diesem Legespiel ist, dass an jede der gelegten Karten jeweils andere Karten angelegt werden können. Nehmen wir an, dass die Karten quadratisch und mit einem Muster versehen sind. Dieses Muster kann mittels neuer, passender Karten ergänzt werden. Das Muster kann so beschaffen sein, dass man immer nur an einer Seite passend anlegen kann. Dann würde das Muster auf der ersten Spielkarte so ergänzt werden, dass alle Karten zusammengenommen eine Schlange ergeben, die Windungen haben kann. Diese Kartenschlange wäre gemustert. Das ist aber nicht die Art des Epheserbriefes. Der Epheserbrief ist eher wie ein Karten-Legespiel, bei dem jede einzelne Karte so gemustert ist, dass an mehreren Seiten eine Karte mit passender Ergänzung der Musterung angelegt werden kann. Dann entsteht statt einer gemusterten Schlange ein gemustertes Netz an Karten, das selbst wiederum ein Muster ergibt.

Spielen wir nun das Karten-Legespiel und übertragen es auf den Epheserbrief. Wir nehmen die erste gemusterte Karte und legen sie auf den Tisch. Nehmen wir – um die Vorstellung zu erleichtern – an, dass diese erste Spielkarte, wie auch alle anderen, mit einem aus Wellen- und Kreislinien bestehenden Muster versehen ist. Übertragen wir diese erste Spielkarte nun auf den Epheserbrief, so handelt es sich um einen Begriff oder um eine Formulierung. Wäre der Begriff konkret und/oder eindeutig, dann würden konkrete und/oder eindeutige Begriffe oder Formulierungen folgen und der Satz würde dem Sinn nach konkret und/oder eindeutig. Für das Kartenspiel würde das bedeuten, dass bei Durchsicht aller noch nicht verwendeten Karten nur an einer einzigen Seite passend angelegt werden kann. Der Epheserbrief ist aber nicht von dieser Art. Die von ihm verwendeten Begriffe und Formulierungen sind gewöhnlich abstrakt, facettenreich und mehrdeutig. Die erste gelegte Spielkarte ist also so beschaffen, dass an mehreren Seiten passend angelegt werden kann. Nehmen wir bei der ersten Karte an, dass an zwei Seiten passend angelegt werden kann. Dann haben wir drei verwendete Spielkarten auf dem Tisch liegen. Bei den beiden passend angelegten Spielkarten können nun wiederum an mehreren Seiten passende Spielkarten angelegt werden. Das Muster auf den Spielkarten wird immer weiter ergänzt und auch die passend angelegten Spielkarten an sich ergeben ein Muster. Dieses Muster stellt keine Schlange mit mehr oder weniger vielen Windungen dar, sondern ist komplex und entwickelt sich zu einem Netz. So entwickelt auch der Epheserbrief auf vergleichsweise geringem Raum ein dichtes theologisches Netz.

Schauen wir uns an möglichst leicht verständlichen Beispielen an, mittels welcher Kunstgriffe das erfolgt:

Nehmen wir als erstes Beispiel die Verwendung von grammatischen Konstruktionen, die mehrdeutig sind. Diese sind nicht auf den Epheserbrief beschränkt, finden sich jedoch in ihm gehäuft und zugleich in besonders bedeutungsoffener Form. Besonders deutlich wird dies, wenn wir uns die Formulierung „Tois paraptômasi kai tais hamartiais hymôn“ in Eph 2,1 anschauen, die einen mehrdeutigen Dativ enthält. Sie kann mit „in euren Verfehlungen und Sünden“, „durch eure Verfehlungen und Sünden“ oder mit „wegen eurer Verfehlungen und Sünden“ übersetzt werden. Alle drei Übersetzungen nennen einen Aspekt, der mitschwingt: Erstere Übersetzung lässt die Verfehlungen und Sünden als einen Raum erscheinen, in dem sich das Dasein der Adressaten vor der Bekehrung zu Christus abspielte. Die zweite Übersetzung lässt die Verfehlungen und Sünden als Mittel erscheinen, durch das der Tod bewirkt wird. Und die dritte Übersetzung nennt Verfehlungen und Sünden als Grund für den Tod. Alle drei Deutungen sind möglich, womit auf engstem Raum drei theologische Aspekte zur Sprache kommen. Diese drei theologischen Aspekte stehen nicht isoliert, sondern werden im Epheserbrief an verschiedenen anderen Stellen passend ergänzt. Die genannte Formulierung ist also wie eine Spielkarte, an die in drei Richtungen angelegt werden kann.

Das zweite Beispiel veranschaulicht die Verschmelzung von verschiedenen Bildern. Eine solche finden wir in besonders ausgeprägtem Maße in Eph 2,19-22. Hier werden verschiedene Bilder der Kirche miteinander verbunden. Die Kirche besteht aus einer Vielzahl Menschen, die eine Gemeinschaft bilden. Sie bilden eine Bürgerschaft, was an eine Stadt denken lässt, und auch ein „Haus“ im Sinne der Hausgemeinschaft. Sie bilden aber auch ein Gebäude, nämlich einen Tempel, in dem Gott wohnt. Weil die Kirche nicht statisch ist, sondern zur Zeit des Epheserbriefes hinsichtlich der Zahl der Christen und des Gemeindelebens am Wachsen, ist auch der Tempel nicht statisch. Vielmehr werden die Christen zu einem Tempel auferbaut und der Tempel wächst. Der Begriff „wachsen“ entstammt wiederum der Welt der Pflanzen, konkret auch des Ackerbaus, der schließlich Frucht bringt. Wachsen tut auch der menschliche Leib, ebenfalls ein Bild der Kirche, die als Leib Christi erscheint, dessen Haupt – so der Epheserbrief – Jesus Christus ist. Und weil die verschiedenen Bilder eng miteinander verwoben werden, kann der Verfasser des Epheserbriefes in Eph 4,12 von der Auferbauung des Leibes Christi sprechen, obwohl strenggenommen ein Leib nicht auferbaut wird, sondern wächst. Vergleichen wir diese Verschmelzung von verschiedenen Bildern und den dazugehörigen Begriffen mit dem Karten-Legespiel, dann sind sie wie verschiedene Spielkarten, die in vielfältiger Form angelegt werden können.

Das dritte Beispiel betrifft die Mehrdeutigkeit eines Verbs. Blicken wir auf das besonders markante Beispiel Eph 4,21, wo davon die Rede ist, dass die Adressaten „Christus gehört“ haben. Die Formulierung „Christus hören“ beinhaltet eine Vielzahl Aspekte: „Christus hören“ bedeutet, das Evangelium zu Gehör bekommen. Christus ist der wesentliche Inhalt des Evangeliums. Er muss akustisch verstanden werden und muss auch begriffen werden. „Christus hören“ beinhaltet den persönlichen Aspekt: Christus persönlich spricht und wird gehört. Es handelt sich also um eine persönliche Beziehung zwischen Christus und dem Zuhörenden. „Christus hören“ bedeutet auch, das Gehörte zu verinnerlichen und gläubig anzunehmen. Da mit dem Titel „Christus“ das ganze Heilsgeschehen mitklingt, bedeutet „Christus hören“ auch, das Heilsvertrauen auf Christus zu setzen. Und schließlich bedeutet „Christus hören“ auch, das Gehörte im eigenen Leben umzusetzen und entsprechend zu handeln. Mit einem einzigen Verb klingt also eine ganze Theologie des Hörens an, die in ihren einzelnen Facetten an anderen Stellen im Epheserbrief weiter entfaltet wird. Und ebenfalls klingt eine ganze Christologie an, die ebenfalls im Epheserbrief weiter entfaltet wird. Auch das Verb „hören“ bzw. die Formulierung „Christus hören“ kann also als eine Spielkarte gedacht werden, an die an mehreren Seiten angelegt werden kann.

Unter anderem mittels der genannten Kunstgriffe gelingt es dem Verfasser des Epheserbriefes, auf engem Raum eine Zusammenfassung der Theologie des Paulus zu bieten – oder besser: eine Zusammenfassung dessen, was der Verfasser des Epheserbriefes für paulinische Theologie hält.

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