Durch das Coronavirus und die damit verbundenen Einschränkungen verzögert, konnte ich nun endlich den Epheserbrief fertigstellen und veröffentlichen.
Insbesondere in der anglo-amerikanischen Literatur wird immer wieder Paulus als Verfasser des Epheserbriefes dargestellt. Ausgangspunkt für diese Annahme ist die Tatsache, dass der Verfasser des Briefes in 1,1 ausdrücklich seinen Namen nennt: Paulus. Ich selbst bin jedoch der Überzeugung, dass nicht Paulus selbst der Verfasser ist, sondern ein Theologe, der eine Paulus nahe stehende Theologie vertritt und sich auf die Autorität des Paulus beruft. Für diese Annahme gibt es gute Gründe.
An vielen Stellen klingt der Text zwar, als würde Paulus höchstpersönlich schreiben, aber bei genauerer Beschäftigung mit dem Text fallen doch erhebliche Unterschiede auf. Den Inhalt betreffend ist besonders auffällig, dass Paulus die Kirche als Leib Christi versteht. Die Christen sind demnach die einzelnen Glieder des Leibes. Der Verfasser des Epheserbriefes dagegen setzt die Kirche nicht mir dem Leib Christi gleich, sondern hält Christus für das Haupt des Leibes, der Kirche.
Bei der Arbeit mit dem Epheserbrief bin ich immer wieder auf sprachliche Eigenheiten gestoßen. Noch bemerkenswerter fand ich jedoch, dass der gesamte Stil und die Machart des Epheserbriefes deutlich von dem Stil und der Machart der echten Paulusbriefe abweichen. Die echten Paulusbriefe sind meist als Reaktion auf bestimmte Entwicklungen oder Probleme in konkreten Gemeinden verfasst. Der Epheserbrief dagegen bleibt allgemein und wirkt eher wie eine Zusammenfassung der Theologie des Paulus – oder besser: eine Zusammenfassung dessen, was der Verfasser des Epheserbriefes für paulinische Theologie hält. Es ist genaugenommen eine frühe Weiterentwicklung der paulinischen Theologie und somit ein sogenannter „deuteropaulinischer“ Brief. Man kann ihn auch als „tritopaulinischen“ Brief bezeichnen, wenn man betonen will, dass schon der Kolosserbrief eine erste Weiterentwicklung der paulinischen Theologie darstellt und der Epheserbrief diese Weiterentwicklung weiterentwickelt. Dann wäre Paulus der Verfasser der echten Paulusbriefe und wäre der maßgebliche Vertreter der ersten Generation paulinischer Christen. Der Kolosserbrief wäre ein Brief eines Theologen der zweiten (= deuteros) Generation paulinischer Christen. Und der Epheserbrief wäre ein Brief eines Theologen der dritten (= tritos) Generation paulinischer Christen.
Die echten paulinischen Briefe lassen erkennen, dass Paulus als ein Missionar tätig ist, der sich mit ganz konkreten Begebenheiten in den einzelnen Gemeinden, die er zum Teil selbst gegründet hat, konfrontiert sieht. Der Verfasser des Epheserbriefes dagegen erscheint eher als Theologe, der in der Schreibstube einen ausgefeilten und kunstvoll gestalteten theologischen Text zu Papier (genaugenommen Papyrus) bringt. Paulus macht zwar auch eine Vielzahl von Glaubensaussagen, aber diese bringt er nicht systematisch, sondern situationsbezogen ein. Er ist also kein Dogmatiker im engeren Sinn, ganz im Gegensatz zum Verfasser des Epheserbriefes, der keine konkrete Gemeinde als Adressatin vor Augen zu haben scheint.
Der unterschiedliche Stil und die unterschiedliche Machart der echten paulinischen Briefe und des Epheserbriefes dürften auch mit einer unterschiedlichen Persönlichkeitsstruktur zu begründen sein: Paulus wirkt impulsiv. Er bricht manchmal Gedankengänge abrupt ab oder führt einen Satz nicht zuende. In diesen Fällen ist ihm Erregung anzumerken. Der Verfasser des Epheserbriefes dagegen wirkt nicht erregt. Wenn er mal einen Gedankengang abbricht oder einen Satz nicht zuende führt, was bei ihm selten vorkommt, dann handelt es sich um einen stilistischen bzw. rhetorischen Kunstgriff. Er will bei den Lesern bzw. Hörern des Briefes eine bestimmte Wirkung erzielen.