Der Zweite Thessalonicherbrief macht den Eindruck, als sei er von dem Apostel Paulus, der in 1,1 als einer der Verfasser genannt wird, selbst geschrieben worden. Ein genauerer Blick auf den Brief lässt jedoch vermuten, dass er von einem „Schüler“ (oder: von „Schülern“) des Paulus verfasst worden ist. Dieser gestaltet den Brief jedoch so, als sei sein „Lehrer“ Paulus selbst der Verfasser. So sollen die Inhalte als echt paulinisch erscheinen. Paulus ist demnach die Gewährsperson bezüglich der Richtigkeit der theologischen Inhalte.
Der 2 Thess als Aktualisierung paulinischer Theologie
Aus verschiedenen Aussagen lässt sich erschließen, dass der 2 Thess erst in einer späteren Zeit als die unbestritten echten Paulusbriefe verfasst worden ist. Besonders deutlich wird dies in der Zurückweisung der Annahme einer unmittelbar bevorstehenden Wiederkunft Jesu Christi. Der 2 Thess setzt vermutlich bereits voraus, dass eine geraume Zeit des vergeblichen Wartens verstrichen ist. Er hat seine eigene Sicht bezüglich des endzeitlichen Geschehens unmittelbar vor der Wiederkunft Christi. Der 2 Thess passt (vermeintlich) paulinische Theologie auf die Zeit der ersten Generation nach Paulus an, darf aber nicht als später Brief zu erkennen sein, um für sich paulinische Autorität beanspruchen zu können.
„Paulus“ als Autoritätsperson der ersten nachpaulinischen Generation
Der „Paulus“ des 2 Thess erscheint dementsprechend weniger als ein Missionar als vielmehr als eine Autoritätsperson, die gebietet. Die früheste missionarische Phase, in der der Apostel Paulus das Christentum selbst verbreitete, ist vorüber. In der ersten nachpaulinischen Generation geht es eher darum, die paulinische Lehre als theologische Grundlage zu sichern und auf die gegenwärtige Zeit hin zu aktualisieren. Folglich wird aus Paulus, dem Missionar, „Paulus“, die Autoritätsperson (siehe v. a. 3,7-10). „Paulus“ verkörpert die (vermeintlich) authentische paulinische Lehre und zugleich die Aktualisierung paulinischer Theologie auf die Gegenwart der ersten nachpaulinischen Generation hin. Für diejenigen, die in heutiger Zeit den 2 Thess aus historisch-kritischem Blickwinkel lesen, ist der Inhalt des 2 Thess allerdings nicht authentisch paulinisch, sondern eine Theologie eines „Schülers“ (oder: mehrerer „Schüler“) des Paulus. Und da spricht einiges für die Annahme, dass „Paulus“ die unmittelbare Naherwartung des frühen Paulus korrigiert.
Übermäßige Betonung der Echtheit des 2 Thess
Nach dem Tode des Paulus konnten keine authentischen Paulusbriefe mehr entstehen. Wenn also ein Brief nach den Lebzeiten des Paulus auftauchte, dann musste das Argwohn bezüglich der Relevanz des theologischen Inhaltes aufwerfen. Der (oder: die) Verfasser des 2 Thess hätte durchaus seinen Brief unter seinem eigenen Namen in Verkehr bringen können. Er hätte auch schreiben können, dass der Brief auf paulinischer Theologie beruht und diese auf die gegenwärtige Zeit hin aktualisiert. Die Leserinnen und Leser hätten den Brief aber wahrscheinlich als „minderwertig“, als nicht maßgeblich abgetan. In der Antike spielte das Alter eine große Rolle, außerdem ein großer Name. Also musste der Brief von Paulus verfasst sein. Dabei dürfen wir aber nicht davon ausgehen, dass es den Menschen damals um historische Korrektheit ging. Historische Korrektheit ist eher Sache des aufgeklärten modernen Menschen. Wenn der 2 Thess seinem eigenen Zeugnis nach von Paulus verfasst ist, dann bedeutet dies in erster Linie, dass er für sich die Autorität des Paulus beanspruchen kann. Und der Name des Paulus verbürgt auch das Alter und damit wiederum die Autorität.
Das heißt aber nicht, dass jede beliebige Person aus jeder beliebigen Zeit einen Brief mit beliebigem Inhalt als Paulusbrief deklarieren konnte. Die Paulus-Fiktion musste schon gut gemacht sein, also so, als sei der Brief tatsächlich von Paulus geschrieben. Der Inhalt musste paulinisch sein oder zumindest erscheinen, ebenso der Aufbau, der Stil und auch die Wortwahl. All dies ist dem Verfasser (oder: den Verfassern) des 2 Thess gut gelungen – so gut, dass bis heute in der Forschung gestritten wird, ob der 2 Thess ein echter Paulusbrief ist oder nicht. Wenn aber bestimmte theologische Aussagen offensichtlich von denen eines Briefes abweichen, der bereits als Paulusbrief anerkannt ist, dann kann die Paulus-Fiktion ins Wanken kommen. Der Verfasser (oder: die Verfasser) des 2 Thess dürfte dieses Problem gesehen und daher zu dem Ausweg gegriffen haben, in besonderem Maße die eigenhändige Abfassung des Briefes durch Paulus bzw. „Paulus“ zu betonen (vgl. 4,17). Ob diese übermäßige Betonung die damaligen Christinnen und Christen überzeugt hat, wissen wir nicht. Aus der Sicht der heutigen Forschung vermag sie die Abfassung des 2 Thess durch Paulus weder zu belegen noch zu widerlegen. Allerdings gibt es für sie in den gemeinhin für echt gehaltenen paulinischen Briefen keine Parallele. Paulus scheint im Gegensatz zu „Paulus“ keine Notwendigkeit gesehen zu haben, die eigenhändige Abfassung dermaßen zu betonen.